TEXT | Estate of Ingolf Timpner | October 26, 2021
WORK ANALYSIS
On the occasion of the estate's monthly newsletter, Florian Peters-Messer has written a text about Ingolf Timpner's work »Ohne Titel (17)«, 1995


Auf dieser Arbeit von Ingolf Timpner aus dem Jahr 1995 schaut uns ein Mädchen im Alter von etwa acht Jahren aus einem düsteren Nichts an. Das Gesicht und die kleinen, zu Fäusten geballten Hände stechen aus der Finsternis heraus. Mit strengem Blick aus tiefschwarzen Augen mustert sie den/die Betrachter/in als möchte sie ihn/sie mahnen vorsichtig zu sein, mit dem was man sagt oder tut. Es ist eine Warnung, da ihre Reaktion auf jeden Fall entschlossen sein wird. Dafür stehen die geballten Fäuste – sie kann und wird sich wehren - ihren Willen durchsetzen. Das Mädchen mutet wie eine Erwachsene an - Raum für etwas Kindliches wie Übermut, Fröhlichkeit oder Neugier gibt es hier keinen.

In beiden Händen, zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie jeweils eine Feige an ihrem Stiel – die Früchte sind noch geschlossen und die Konturen verschwimmen fast im unscharfen Dunkel des Hintergrundes. Etwas Besitzergreifendes - Hartes schwingt in der Geste des Kindes mit.

Die Feigen irritieren – stehen sie doch seit der Antike für Erotik, weibliche und männliche Sexualität sowie Rausch. Warum werden sie vom Künstler in Zusammenhang mit einem Kind gebracht? Stehen die geschlossenen Früchte für eine noch nicht entwickelte Sexualität oder für Jungfräulichkeit, die verteidigt werden muss? Hat das Mädchen bereits Angst vor Kontrollverlust? Leistet es den Erzählungen der „Alten“ folge, indem es das „Unanständige“ in den Griff zu bekommen sucht? Oder sind es vielmehr die Früchte vom Baum der Erkenntnis, die das Kind wissend in der Hand hält um sie später verführend einzusetzen?

Timpners Metaphorik lässt den Betrachtenden auf jeden Fall viel Raum für Spekulationen. Was ist geschehen, dass dieses Mädchen so ernst und streng geworden ist? Rührt die Entschlossenheit daher, dass schon dem unreifen Kind alles Wissende, wie ein Urwissen eingeschrieben ist? Hat es Erfahrungen gemacht, die ihm die jugendliche Leichtigkeit und Unschuld genommen haben oder aber folgt es fremden Einsagungen?

Die Entschlossenheit im Blick des Kindes und seine Haltung sprechen dafür, dass bereits jetzt wesentliche Aspekte des späteren Lebens klar definiert zu sein scheinen. Es drängt sich der beklemmende Eindruck auf, dass das Mädchen schon in diesem Moment nicht mehr glücklich und frei ist. Mit welchen Folgen für die Zukunft? Ob es die erwachsene Frau schaffen wird, sich von ihren, in Kindheit und Jugend entstandenen determinierenden Prägungen zu lösen, ist ungewiss.

Text: Florian Peters-Messer